ⅫⅠ : Vindicta │ 1 · Deck 4: Rubinfeuerrot


»Willkommen an Bord des Exo-Explorationsschiffs Vindicta«, sprach die ruhige Frauenstimme aus der Wandkonsole, während die beiden purpurnen Lichter zu ihrer Stimmenmelodie pulsierten. »Ich bin A.D.I.N.A. – Autonome Dra'ák Inkarnations- und
Nanogenetik-Assistentin – und wenn ich hinzufügen darf, seit kurzer Zeit wohl auch noch Begrüßungskomitee und Putzfrau. Tzz ... Wie dem auch sei, ich möchte Sie bitten, nicht noch mehr Unordnung zu fabrizieren als Testobjekt S-P-H-31. Meine Reinigungssysteme sind noch mit der Crew überlastet.«

Azur ließ den Dolch wieder verschwinden und starrte erstaunt an die Wand. »Pegasus, du bist echt ein Arsch. Lass mich raten ...
›Humor-Parameter funktionieren zu einhundert Prozent‹?«

»KORREKT. – POINTEN-EFFIZIENZ BEI 95%. – DEINEN VITALFUNKTIONEN NACH, WAR DIESER SCHERZ ERFOLGREICH.«

»Ha-ha. Ich lache später. Adina? Bist du ... eine K.I.?«

»Eine Intelligenz. Möchtet Ihr mir nicht Euren amüsanten Begleiter vorstellen?«

»Beglei...?« Azur rappelte sich wieder auf. »Ach, du meinst ... Ich fasse nicht, dass ich das jetzt tue. Adina, das ist Pegasus. Ähm... P-enetrant, E-igensinnig, ehemals G-arstiges A-utomobil, S-ynaptisch mit mir verbunden U-nd S-owas von überhaupt nicht witzig.«

»KIRO, DU SOLLTEST DRINGEND AN DEINER FÄHIGKEIT, AKRONYME ZU BILDEN, ARBEITEN. – ADINA, ES FREUT MICH, ENDLICH EINE ANDERE INTELLIGENZ ZU TREFFEN. WENN ICH HINZUFÜGEN DARF, ICH BENEIDE IHRE HARMONISCHE STIMME. IST DIESE AUTARK MODULIERT ODER ADAPTIV INTERPOLIERT?«

»Vielen Dank, Pegasus. Es freut mich ebenfalls, Sie kennenzulernen.
Ihre archaische Eloquenz ist aber auch sehr charmant. Die digitalen Kommunikationssignaturen reaktivieren in meinen Dialog-Subroutinen ausgesprochen angenehme Prozesse. Wenn ich hinzufügen darf, handelt es sich bei unseren Namen genaugenommen aber um Apronyme.«

Für einen Moment vergaß Azur, was er eben noch fragen wollte. Gleichermaßen fasziniert, wie auch seltsam peinlich berührt, fühlte er sich völlig fehl am Platz. »Flirten da grade tatsächlich zwei Maschinen miteinander?« Er räusperte sich verlegen. »Entschuldigt bitte, ihr zwei Turteltäubchen, aber könntet ihr das vielleicht später fortsetzen? ­– Ich weiß nicht ... vielleicht bei ROM-antischem Dioden-Schein und einem Drei-Gänge-Unter-Menü, bei einem ersten Up-Date?«

»VERZEIHUNG. – WORTSPIELE REGISTRIERT. – HA-HA.«

»Verzeihung, Herr. Was ist Euer Anliegen?«

»Danke. Pegasus sagte, dass er sechs Lebensformen hier an Bord registriert. Ich suche nach Neko, einer ... Freundin. Sie hat mir etwas gestohlen, das ich wiederbrauche. Kannst du mir sagen, wo sie sich befindet? Irgendwie könnte es nämlich sein, dass ich hier doch noch krepiere, wenn ich es nicht bald bekomme.«

»Verzeiht, Herr. Meine Systeme fallen bereits eines nach dem anderen seit 4500 Jahren aus. Nur unbedingt relevante Funktionen konnten aufrechterhalten werden. Scanner und Kameras sind nicht einsatzbereit.«

»Kann Pegasus dir helfen, oder du ihm?«

»Ja. Mit seiner Erlaubnis würde ich ihn gerne analysieren. Ohne Scanner müsste er sich mit mir physisch verbinden.«

»WERTESTE ..., SIE MACHEN MICH VERLEGEN. DAS GEHT ALLES SO SCHNELL.«

»Pegasus!«

»VERZEIH. DER GEGENSEITIGE ZUGRIFF ZWEIER INTELLIGENZEN AUF IHRE INNERSTEN KERNPROGRAMME IST EINE ÄUßERST INTIME INTERAKTION. – ZUGRIFF GEWÄHRT.«

»Du meinst, es ist für euch sowas wie ... Ach vergiss es. Was soll ich tun?«

Einige weitere Lichter und Displays aktivierten sich an der Wandkonsole und eine kleine, fünfeckige Vertiefung öffnete sich. »Bitte führen Sie Pegasus physischen Speicher hier ein. Er weiß, was zu tun ist.«

Azurs Hände wurden schwitzig, als er sich der vermeintlichen Datenschnittstelle näherte. »Das sind nur Computer. Platinen, Energie und Metall. Nichts weiter«, versuchte er seine Gedanken zum Anstand zu ermahnen. Doch trotz allem hatte sich sein pubertäres Gehirn bereits in die P-18-Abteilung seines eigenen Kopfkinos geschlichen. Zum Kichern war ihm bei sowas noch nie zumute gewesen. Aber den hochroten Kopf, als er nun seine Hand in Adinas Öffnung steckte, konnte er nicht verhindern.

Ein leichter Stromschlag fuhr durch Azurs Arm und augenblicklich begannen Adinas Displays etwas heller zu leuchten. Er spürte Pegasus ansteigende Hitze um sein Handgelenk. Unwillkürlich schloss er die Augen und wandte geniert den Blick an die Decke. »Was tue ich hier? Das Letzte, was ich in meinem Leben erwartet habe, ist, auf einem altersschwachen Raumschiff der Verkuppler oder gar Gespiele zweier Computer beim Cybersex sein zu müssen.«
Für den nächsten Gedankensprung – in dieser prekären Situation – hätte er sich zwar mit der freien Hand am liebsten selbst geohrfeigt, aber dennoch war er dankbar für die Ablenkung.

»Kali. ­– Werde ich dich jemals wiedersehen? Du hast mir in der kurzen Zeit so viele erste Male geschenkt. Das erste Mal, dass ich mich frei gefühlt habe. Das erste Mal, dass ich mich in meine Gedanken nicht wie in einen Tresor eingesperrt gefühlt habe, sondern mich in sie, wie in eine riesige, weiße Federdecke habe fallen lassen können. In ein weiches Bett aus Leichtigkeit und Freiheit. Das erste Mal, dass ich von meiner Muse geküsst wurde. Ich vermisse dich, Kalliope! Von der Nasenspitze bis zu den quietschbunt lackierten Zehenspitzen. Das synchrone Herzklopfen in uns; den immer schnelleren Rhythmus bei unserem gemeinsamen ersten Mal – den verlangsamenden Takt, dem ich beim Einschlafen zugehört habe. Und das erste Mal, dass ich mich selbst erkannt habe. Die Pfefferminzsplitter deiner Kraft stecken noch immer tief in meiner Hand. Vielleicht wandern sie ja in mein Herz, bleiben dort für immer tief stecken und können mich leiten. Du wirst mich leiten! Das weiß ich! Bis wir uns eines Tages, in irgendeiner fremden Welt ...«

Ein schrecklich schriller Schrei riss Azur aus seinen Tagträumen. Adina und Pegasus waren noch stumm, schienen sich auf eine bizarre Art immer noch irgendwie zu vereinigen.

»Hey, ihr zwei! Woher kam das? Seid ihr fertig?«

Ein weiterer, weit entfernter Schrei war von irgendwo auf dem Schiff zu hören. Ein Schrei aus Wut und Angst.

»Adina?! Pegasus?!«

Die Symbole und Leuchtpunkte wurden wieder etwas dunkler.

»ANWESEND. – WIR SIND FAST FERTIG MIT DER SYNCHRONISIERUNG.« 
»Das Geräusch kam von Deck 4.« – »DAS LABORATORIUM.« 
»Schiffsdatenbank bereits kopiert. Fehlende Scannerdaten ergänzt.« –
»6 LEBENSFORMEN BESTÄTIGT. – 2 INTELLIGENZEN UND 1 HUMANOID AUF DECK 19.« – Der Torraum.« – »1 DRA'ÁK UND OBJEKT S-P-H-31 AUF DECK 4.« 
»Warnung! Signatur der 6. Lebensform als Metamorph identifiziert.
Ein Mononoke. Gefahrenwert auf Gaia-Skala: 13 von 13.«

»Ein was?« In Azurs großen Augen spiegelte sich zwischen den zwei purpurnen Punkten, die für ihn Adinas imaginäres Gesicht repräsentierten, jetzt ein rotes Warnsymbol.

»EIN MONONOKE. – EIN WESEN UNBEKANNTEN URSPRUNGS. – VERMUTLICH ENTSTANDEN IM NOCH UNERFORSCHTEN ZWIELICHT. – EINE KÖRPERLOSE ANNOMALITÄT. – KANN SICH IN DEN WELTEN JEDOCH IN VERSCHIEDENEN GESTALTEN MATERIALISIEREN. – FÄHIGKEIT: METAMORPH. – UNTER TERRANERN AUCH BEKANNT ALS GESTALTWANDLER, WIEDERGÄNGER, WANDELWICHT ODER GEIST.« – »Ergänzung zur kognitiven Verarbeitung, der im bio-physischen Speicher des Terraners Kiro vorhandenen Verknüpfungen: In terrestrischen Kulturen unter anderem in Erscheinung getreten in der griechischen Antike, als Zeus, in japanischer Frühgeschichte, als ...«

»Yōkai«, unterbrach Azur sie.

»KORREKT.«

»Wo ist er?«

»GENAUE LOKALISIERUNG NICHT MÖGLICH. – NÄHRT SICH FLUKTUIEREND DECK 4.«

»Also will es zu den anderen Zweien!? Neko! Objekt S-P-H-31 ist also Neko?«

»Ja, Herr.«

»S-P-H ... Shiva-Philia-Hybrid?«

»EBENFALLS KORREKT.«

»Ich muss zu ihr. Ich ...«

»NEGATIV. – VERBINDUNG SOLLTE NOCH NICHT GETRENNT WERDEN.« – Ergänzung: Bei Abschluss der Synchronisierung wird dringend empfohlen, sich an Notfall-Exekutive 9-2-2 zu halten. Priorität: Alpha.«

Azur kam diese Ausdrucksweise leider zu bekannt vor. »Und die wäre?«

»ÜBERLEBENDE SICHERN. – JEGLICHEN KONTAKT ZU KLASSE 13 YŌKAI VERMEIDEN – BESCHLEUNIGTE EVAKUIERUNG. – TERMINIERUNG DER BEDROHUNG DURCH TOTALE KOMPRESSION DES SCHIFFSKÖRPERS.«

»Kommt gar nicht in Frage! Macht, was ihr wollt. Ich suche Neko!«
Azur zog die Hand aus der Schnittstelle und sprang auf. Ungeachtet seines aufgeschlitzten Rucksacks schnappte er sich daraus das arg in Mitleidenschaft gezogene Notizbuch und rannte in Richtung des schmalen Türspalts, den er, schon als die spärliche Beleuchtung aktiviert wurde, entdeckt hatte.


* * *


Die krallenförmigen Markierungen an den Wänden identifizierte er schnell als ein Zahlensystem. Der Nummerierung folgend rannte er einen halbdunklen Korridor nach dem anderen entlang.
Keine Schiffsdecks im herkömmlichen Sinne, wie er nach einem geschätzten Kilometer feststellen musste. Die Decks waren in hintereinanderliegenden Sektionen angeordnet. Zwischen jedem Deck lag eine Art Schleuse, die ihn jedes Mal wertvolle Sekunden kostete, bis sich diese zischend in Decke und Boden verzog.
Mittlerweile hechtete er schon geübt durch die erst halb geöffneten Panzertüren. »Ich bin von Deck 19 gestartet. Ein Kilometer ...« Das nächste Symbol, an dem er vorbeirauschte, identifizierte er als „13".
»Fuck! Noch nicht mal die Hälfte! Wer baut solche scheiß-langen Dinger?«

Vor der nächsten Schleuse bremste er außer Atem abrupt ab.
»Was zur Hölle ...« Diese Tür würde sich nicht mehr öffnen, war ihm völlig klar. »Irgendwas hat dieses meterdicke Teil komplett demoliert«, betrachtete er das scharfkantige Loch darin. »Wenn dieses Ding sie vor mir erreicht ...« Ohne Rücksicht auf die zerfetzten Metallkanten zu nehmen, quetschte er sich hindurch.

Und weiter ging es. Ein Marathon durch sechs weitere, ähnlich malträtierte Schleusen, bevor er eine Zwangspause einlegen musste, ob er wollte oder nicht. Zwischen den Symbolen für „6" und „5" glitt er völlig entkräftet mit dem Rücken an der glänzend schwarzen Metallwand herab. Sein hämmerndes Herz hätte wohl die nächste Tür ähnlich zertrümmern können wie dieser Yōkai irgendwo vor ihm, doch das tat es jetzt erstmal mit seinem Brustkorb. Mit verbissenem Gesicht hielt er sich Rippen und Hüfte – Seitenstiche der Extraklasse. »Scheiße!«, zischte er und schlug mit bebenden Nasenflügeln mehrfach den Hinterkopf an die Wand, vor der er saß. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Den Kopf im Nacken öffnete er die schmerzhaft zugekniffenen Lider – und starrte in ein Loch, das dort in die Decke gerissen wurde. »Warum ist er hier nach ...« Azur krabbelte auf allen Vieren zur beschädigten Schleuse vor ihm und entdeckte den Grund. »Das Ding ist hier nicht durchgekommen. Hat es etwa auch keine Puste mehr? Stufe Dreizehn auf der Gaia-Skala ist also trotzdem nicht unaufhaltsam. Ha! Geist oder nicht, durch Wände gehen kannst du wohl eher weniger!« – »Ein Schiffsplan wäre toll, Pegasus ... Pegasus?«

»Tut mir leid, Herr. Pegasus wurde noch nicht wieder transferiert.
Ihr habt den Austausch zu früh unterbrochen. – Schiffskarte wird angezeigt.«

Azur war verdutzt, plötzlich Adina aus dem Bio-Link zu hören, konzentrierte sich jedoch sofort auf das Hologramm, das ihm das Armband jetzt zeigte. Mit bloßen Gedanken, wie er feststellte, konnte er in der 3D-Karte navigieren, was er auch in hohem Tempo tat, bis er fand, was er erhofft hatte. »Unser Geisterfreund hat wohl die falsche Abzweigung genommen, wie's aussieht.«
Er zoomte aus der Karte heraus und sah zum ersten Mal das volle Ausmaß und die Form der Vindicta. »Sieht aus wie ein riesiger Nagel mit zwei Tragflächen in der Mitte. Und wir sind hier an dem Kreuzungspunkt, oder?«

»Das ist richtig.«

»Und das Schiff hat neunzehn Decks? Kann doch nicht stimmen! Nach meiner Berechnung ist ein Deck knapp hundertsechzig–hundertsiebzig Meter lang. Macht maximal ... keine dreieinhalb Kilometer. Das hier sieht wie zwanzig oder fünfundzwanzig aus. Was ist da vorne?«

»Das dort vorne ... ist hinten, Herr. Und hinten ist das Heck.« Dann kicherte Adina tatsächlich wie ein Schulmädchen. »Verzeiht. Im Heck befindet sich natürlich die Sternenantriebssektion.«

»Das Ding kann also interstellar fliegen? Wie weit könnten wir kommen?«

Wieder kicherte Adina verlegen, bevor sie antwortete. »Ach, mein Herr ... habt Ihr Euer Gedächtnis verloren? Nicht interstellar, sondern ...
per-stellar, würdet Ihr wohl sagen. Die Antriebstechnologie der Dra'ák, aber auch alle anderen jemals entwickelten Überlichtgeschwindigkeitsantriebe, verbrennen Sternenfragmente. Das solltet Ihr, auch ohne Techniker zu sein, bei Eurer Ausbildung in der großen Zikkurat Tartaros aber mitbekommen haben.« Ein ausgiebiges Kichern folgte, wie zu erwarten.

Azur spürte seine inneren Warnlämpchen aufleuchten und entschied sich instinktiv, das Spiel mitzuspielen. Besser, an so viele Informationen zu kommen wie möglich, auch wenn dies ein nicht unerhebliches Missverständnis zu sein schien. Und noch etwas brachte ihn zum Nachdenken: Adina war offensichtlich in seinem Bio-Link, wie zuvor Pegasus. Ihre Verbindung mit ihm reichte bis in jedes Lungenbläschen, jede Synapse und sein komplettes Nervensystem. Letzteres musste er nun stark beherrschen. »Nicht auszudenken, was sie in mir anstellen könnte, wenn sie es wollte.«

»Sonst noch Fragen, Herr? Ist das ein Spiel? Ein Funktionstest meines Langzeitspeichersystems?«

»Ähm, ja, genau ... Also noch ein paar schnelle Fragen. Sonst verliere ich meinen gewonnenen Vorsprung. Warum, natürlich rein rhetorisch, nennst du mich ›Herr‹?«

»Das ist einfach. Hihi. Diese Höflichkeitsformel ist sowohl für alle Dra'ák der 3.Ordnung, wie Prätoren, Legaten und Imperatoren, als auch der 4.Ordnung, wie unter anderem der Kaste der Exsecutoren, zu der Ihr, werter Herr, nun einmal gehört, vorgesehen.«

Azur schluckte diesen Brocken, schob ihre Annahme aber erst einmal klar auf zwei Dinge: Ihre Sensorik, auch Kameras, schienen ausgesprochen an Altersschwäche zu leiden, wie sie vorhin selbst verriet und er trug ja den schwarzen Schuppenledermantel des getöteten Exsecutors. Aus noch unbekannten Gründen schien dies zu reichen, dass sie ihn tatsächlich für einen Dra'ák hielt. »Kleider machen eben Leute. Wahrscheinlich besser für mich, dass sie das denkt. – Obwohl ... beim Scann hat sie mich doch als Humanoiden erkannt. Kann das heißen, dass Dra'ák auch ...«

»Noch eine Frage? Verbleibende Zeitdifferenz zum Yōkai auf Umwegen beträgt übrigens noch zirka 11 Minuten und 2 Sekunden.«

»Ähm, ja. Was befindet sich in den paar Kilometern vor Deck Eins?«

»Die Waffensektion. Primärbewaffnung der Vindicta ist der experimentelle Heliofluid-Multipuls-Spektralpartikel-Gleichrichter. Sekundärbewaffnungen, ehemals einfache Nuklear-Projektile, wurden nach schweren Schäden der äußeren Hülle des Schiffs bereits abgestoßen.«

»Helio... Also nutzt das Schiff auch für die Waffe Sonnenteile? Helio... Spektral... H.M.S. ähm... Der Erfinder war wohl kein Freund von so schönen Akro... Apronymen wie Adina oder Pegasus ...«

»Liebsten Dank, Kiro. – Darf ich dich so nennen? – Du weißt, was eine Frau hören will. Hihi.«

»Von mir aus ... Und die Flügel sind sowas wie Kollektoren und haben etwas mit der Energieversorgung zu tun!?«

»Genau.«

»Letzte Frage: Was von all dem funktioniert noch halbwegs?«

Der Bio-Link projizierte, während sie sprach, die Liste vor Azurs Gesicht.

»Hauptsysteme in absteigender Reihenfolge nach Struktur- und Funktionsparametern –

Kurzstreckenkommunikation: 99%
Navigation: 97%
Innere Hüllenintegrität: 96%
Strahlungsschilde: 90%
Lebenserhaltung: 89%
Viadukt-Portal: 70%
Stellarer Sublicht-Antrieb: 63%
Genetik-Labor: 60%
Stellarkollektoren: 51%
Äußere Hüllenintegrität: 29%
Stellarer Supralicht-Antrieb: 11%
Primärbewaffnung: 4%
Langstreckenkommunikation: 1%
Reinkarnations-Kammern: 1%
Sekundärbewaffnung: 0%«

Azur hatte alles gehört und gelesen, was ihn interessierte.
»Okay, das reicht mir.« In seinem Kopf geriet einiges in Bewegung. »Wenigstens sieht es nicht komplett hoffnungslos aus. Auch wenn es anscheinend nichts gibt, was noch zu hundert Prozent funktioniert ...«

»Doch, das gibt es, Herr.«

»Und das wäre?«

»Selbstzerstörungs-Automatik bei 100%. Und wenn ich hinzufügen dürfte: Liebreizende Assistentin ebenfalls bei 100%. Hihi.«

»Warum überrascht mich das nicht ...? Kannst du die Tür zu Deck Fünf öffnen?«

Ohne Antwort schrammte die Schleuse einen guten halben Meter funkensprühend auseinander, bevor sie sich kreischend verklemmte. Azur zwängte sich durch den schmalen Spalt und landete mit einem klatschenden Geräusch auf dem Boden von Deck Fünf. Anders als die sonst recht unversehrten Sektionen zuvor, waren hier intakte Leuchtpanele wieder Mangelware.
Die flackernden Reste erhellten jedoch ein wahres Schlachtfeld.
Wo er auch hinsah, bot sich ihm der nackte Horror.
Weder der Anblick Licentias, noch der verbrennende Exsecutor hatten ihm so einen Schlag in den Magen verpasst. Seinen kläglichen Mageninhalt übergab er der nächstbesten Blutlache, denn die Auswahl war nicht knapp. Kaum noch zu schätzen, mussten hier die zerstückelten Leichen von mindestens vierzig, fünfzig, oder mehr Individuen verteilt liegen. – Torsos, von allerhand Metallteilen durchbohrt, deren Köpfe, die noch tropfend in den Panelen der Wände steckten, abgetrennte Gliedmaßen; Beine, die wie angewurzelt noch dort standen, wo sie ihr Körper verließ; Arme, die noch das in Händen hielten, mit dem sie zuletzt beschäftigt waren und formlose Haufen von inneren Organen, die noch mit schmatzenden Geräuschen in sich zusammensackten.
Über allem der Geruch von versengtem Haar und verkohltem Fleisch.
– Nichts als Galle, was der Schlichter noch loswerden konnte.

Dann wagte er sich, bedacht darauf, nicht im schwarzen Blut auszurutschen, langsam weiter durch das Massaker. Den Mantelärmel nutzlos vor Mund und Nase, durchquerte er den Raum Richtung nächster Luftschleuse. Dass er unter den Körperteilen nicht nur schwarzschuppige, sondern auch durchaus menschliche ausmachen konnte, hatte er bereits vermutet. »Ist dieser Formwandler doch hier rein gekommen? Was, wenn er doch einen schnelleren Weg gefunden hat. Was, wenn er Neko ...«

»Testobjekt S-P-H-31«, war der trockene Kommentar von Adina. »Ich sagte doch eingehend: ›Meine Reinigungssysteme sind noch mit der Crew überlastet.‹ «

Zu keiner Artikulation fähig, beschleunigte er seinen Schritt.
Schließlich stand er vor der Tür zum vierten Deck. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, trat er näher, sodass die Automatik die Tür entriegelte.

Eine lange, blutige Schleifspur führte geradewegs zwischen den Säulen, deckenhohen Glaszylindern und verschiedensten großen Maschinen hindurch. In Azurs Verstand blitzten sofort wieder zwei glühende Smaragde auf. – Dieser Raum war fast das Ebenbild des Verlieses von Liz. Nur die glatten, schwarzen Oberflächen des eigenartigen Dra'ák-Metalls ersetzten hier das Mauerwerk, eine der Glassäulen die Guillotine und dreizehn Glastüren die Tunnel. In der Mitte des Raums liefen zwar Kabel und Schläuche statt der Ketten zusammen, doch thronte dort ebenfalls etwas.

Die Zähne tief in die Kehle des noch zuckenden, riesigen Kadavers geschlagen, schien es seinen blutigen Hunger zu stillen, indem es immer wieder den Kopf wild hin und her riss und seinem Opfer dabei ein Stück Fleisch nach dem anderen aus dem noch lebendigen Körper fraß.
Noch hatte das Wesen sein Näherkommen nicht bemerkt. Ihm den Rücken zugewandt, war es wortwörtlich zu sehr in seine Mahlzeit vertieft. – Der nächste Schritt des Schlichters sollte dies jedoch ändern. Auf Höhe des einzig zerstörten Zylinders durchbrach ein Glasscherbenknacken unter seiner Stiefelsohle die Ruhe des Gelages.

Das Kauen von rohem Fleisch verstummte; alle Bewegung fror ein.
Nur der Kopf wurde langsam aus der klaffenden Wunde gezogen.
Der Raum wurde schleichend in ein unheilverkündendes Rotglühen getaucht. Azur versuchte seine Gewissheit wegzuatmen, doch die Quelle des Rotschimmers warf sie ihm mit einer blitzschnellen Kopfdrehung wieder grinsend zurück und besprenkelte ihn dabei mit feinen Blutströpfchen.

Dann trafen sich zwei Augenpaare.
Ein hasserfüllt glückliches Rubinfeuerrot spiegelte sich in den schwarzen Pupillen der blauen Augen. Und ein furchtvoll entschlossenes Blau, in denen des Flammenkindes.


Unbemerkt blinkte der Bio-Link purpurn:

»RELICUUS TEMPUS: 28h:15m:00s«

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